Infolge der ersten Teilung Polens (1772) wurde Bydgoszcz, von Kriegen zerstört und stark entvölkert, Preußen einverleibt. Die Stadt, zu jener Zeit als Bromberg bekannt (deutscher Name der Stadt), wurde zu einem wichtigen administrativen und militärischen Zentrum. Gleichzeitig begann sie sich wieder zu einem Handels- und Industriezentrum zu entwickeln, und zwar dank dem König von Preußen, Friedrich II., und seiner Entscheidung, den Bromberger Kanal zu bauen (1773–1774). Die Eisenbahnverbindung mit Berlin aus dem Jahre 1851 verlieh der Entwicklung der Stadt einen weiteren Impuls und trug wesentlich zu ihrer Blütezeit bei. Die zweite Hälfte des 19. Jh. und der Anfang des 20. Jh. brachten für Bydgoszcz eine dynamische Entwicklung mit sich. Diese Periode kann als zweites goldenes Zeitalter in der Geschichte der Stadt bezeichnet werden. Die meisten damaligen Einwohner von Bydgoszcz waren Mitglieder von Familien, die aus Preußen hierher übersiedelten. Berlin, als Hauptstadt des vereinten Deutschlands, begann einen großen Einfluss auf die Einwohner der Stadt an der Brahe (poln. Brda) auszuüben. Zu Beginn des 20. Jh. konnte die Hauptstadt des Deutschen Reiches innerhalb von fünf Stunden erreicht werden. Den Einwohnern standen dabei über ein Dutzend Zugverbindungen pro Tag zur Auswahl. Kaufleute, Unternehmer, Fabrikanten und Architekten aus Bydgoszcz fuhren geschäftlich nach Berlin. Auch in die entgegengesetzte Richtung war der Verkehr rege. Hier fertigten lokale, aber auch Berliner Architekten ihre Entwürfe an. An der Brahe entstanden zahlreiche Mietshäuser, öffentliche Gebäude sowie Industriebetriebe mit einer interessanten Architektur. All dies führte dazu, dass Bydgoszcz als „Klein-Berlin“ bezeichnet wurde. Gönnen Sie sich einen Spaziergang durch die Stadt und entdecken Sie die deutschen Facetten von Bydgoszcz aus der Wende des 19. zum 20. Jh.
1. Lloyd-Palais, ul. Grodzka 17*
Das Objekt wurde 1885-1886 im Stil des niederländischen Manierismus für den Schifffahrtskapitän Otto Liedtke errichtet. Trotz seiner bescheidenen Größe beherbergt das Bauwerk eine über 100 Jahre lange Geschichte der Binnenschifffahrt in Bydgoszcz. Diese zu Beginn des 20. Jh. von der Bromberger Schleppschiffahrt erworbene Immobilie bezeugt die Rolle, welche der Flusshandel in der Geschichte der Stadt an der Brahe spielte. Die Verbindungen zum Wasser, außergewöhnliche hydrotechnische Objekte sowie das industrielle Erbe der Stadt aus dem 19. Jh. lassen sich hervorragend auf der Mühleninsel (poln. Wyspa Młyńska) erkennen.
* Zu jener Zeit galten deutsche Bezeichnungen für Straßen und Plätze; und so hieß die Straße Grodzka zuerst Schloßstraße und dann Burgstraße.
2. St.-Andreas-Bobola-Kirche, pl. Kościeleckich 7
Das Gotteshaus, das von der Altstädtischen Brücke (poln. Most Staromiejski) aus zu sehen ist, wurde 1901-1903 für die deutsche Religionsgemeinschaft als evangelische Pfarrkirche
errichtet. Die Mehrheit der Einwohner von Bydgoszcz machten zu jener Zeit Deutsche aus, die überwiegend Protestanten waren. Die imposante Kirche, bis heute das höchste Gebäude der Stadt (75 m hoch), wurde vom Berliner Architekten Heinrich Seeling entworfen. Er war zwar auf Theatergebäude spezialisiert, realisierte aber für Bydgoszcz zwei Sakralbauten, welche die einzigen Gotteshäuser in seinem Portfolio
sind.
3. Das Hauptpostamt von Bydgoszcz, ul. Jagiellońska 6
Der umfangreiche Komplex von Postgebäuden wurde 1883-1885 und 1896-1900 zwischen der Brahe und der Straße ul. Jagiellońska errichtet. Die preußischen Behörden beschlossen nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich (1870-1871) und der Erlangung hoher Kriegskontributionen, die Postinstitutionen im neuentstandenen Deutschen Reich auszubauen. Das Bauwerk wurde im neugotischen Stil, der im 19. Jh. vom preußischen Parlament als national anerkannt wurde, erbaut und erfüllt bis heute seine ursprüngliche Rolle. An der Fassade lassen sich – unter vielen interessanten Details – über den Eingängen des Gebäudes gut erhaltene Inschriften in deutscher Sprache erkennen.
4. Mietshaus, ul. Stary Port 1-3
Das neobarocke Eckgebäude, errichtet von einem der bekanntesten Baumeister aus Bydgoszcz, Józef Święcicki, wurde als Hohenzollernhaus entworfen. Eine interessante Verzierung dieses Gebäudes stellte einst die Skulptur von Kaiser Wilhelm I. dar, die in der Nische an der Ecke auf der Höhe des dritten Stocks stand. Der König von Preußen und der erste Herrscher eines vereinten Deutschlands schaute von 1893 bis 1920 auf die Brahe, bis Bydgoszcz wieder zu Polen kam.
5. Mietshaus, Plac Teatralny 6
Das markante, großstädtische Mietshaus am Theaterplatz wurde 1912 vom Berliner Architekten Henry Gross für den Bromberger Kaufmann und Möbelfabrikanten Otto Pfefferkorn entworfen. Die Möbelindustrie in Bydgoszcz entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. äußerst dynamisch, weil damals in der Stadt an der Brahe einige Dutzend Sägewerke in Betrieb waren, darunter auch Betriebe, die Berliner Holzhändlerngehörten. Die Hauptstadt Deutschlands war zweifelsohne der Hauptabnehmer für Bromberger Holz und die lokalen Möbelwaren.
6. Emil-Werkmeister-Mietshaus, ul. Jagiellońska 4
Dieses vom bekannten und angesehenen Berliner Architekten Heinrich Seeling entworfene Gebäude wurde 1910-1912 errichtet. Das für jene Zeit moderne Bauwerk mit reduzierten Details und einem interessanten Sonnenmotiv am Erker entstand im Auftrag des Bromberger Kaufmanns Emil Werkmeister auf dem Gelände der ehemaligen Getreidespeicher.
7. Filiale der polnischen Nationalbank NBP in Bydgoszcz, ul. Jagiellońska 8
Das Gebäude wurde 1863-1864 für die Bedürfnisse der hiesigen Filiale der Königlichen Hauptbank in Berlin errichtet. Das repräsentative Gebäude wurde vom deutschen Baumeister Hermann Cuno entworfen. Mit seiner Form knüpft das Bauwerk im Stil der Neorenaissance an die Palastarchitektur der italienischen Renaissance an. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung verfügte die darin entworfene Schatzkammer über äußerst moderne Schutzvorrichtungen.
8. Das Gebäude des Woiwodschaftsamtes in Bydgoszcz, ul. Jagiellońska 3
Der älteste Teil des heutigen Gebäudekomplexes wurde 1834-1836 als Sitz des Regierungsbezirkes Bromberg (der 1815 mit der Entscheidung des Königs Friedrich Wilhelms III. gegründeten Verwaltungseinheit in Preußen) errichtet. Das neoklassizistische Amtsgebäude entstand nach den Plänen der Höheren Baudeputation in Berlin. Sein Entwurf stammte vom Bauberater Carl Adler, Korrekturen daran nahm dagegen der deutsche Architekt und Stadtplaner Carl Friedrich Schinkel (1781-1841) vor, der als einer der hervorragendsten Vertreter des Klassizismus im Königreich Preußen gilt.
9. Sintflutbrunnen, park Kazimierza Wielkiego
Der 1904 feierlich enthüllte Brunnen stammt vom Autor der Bogenspannerin von Bydgoszcz, dem Berliner Bildhauer Ferdinand Lepcke, und entstand im Rahmen eines Wettbewerbs für den Entwurf eines Brunnens und eines Denkmals zugleich, das diesen Stadtteil verzieren sollte. Von Anfang an wurde das Objekt zu einer Sehenswürdigkeit und vor allem zu einer der am meisten fotografierten Stellen in der Stadt. Die mittlere Hauptgruppe – Menschen und der vor dem Wasser fliehende Löwe – war etwa sechs Meter hoch. 1943 verschwand das Bildhauerwerk aus der städtischen Landschaft, als die deutsche Armee es zu neun Tonnen Bronze einschmolz. Dank ehrenamtlichem Engagement wurde dieser einzigartige Brunnen 2014 an seinem angestammten Platz wiederaufgebaut.
10. Peter- und Paulskirche, plac Wolności
Das Gotteshaus wurde 1872-1876 für die Bedürfnisse der evangelischen Gemeinde in Bydgoszcz errichtet. Das für jene Zeit moderne Gebäude stammt vom Berliner Architekten Friedrich Adler. Der auf Sakralbauten spezialisierte Dozent der Berliner Bauakademie entwarf für Bydgoszcz dieses interessante historisierende Gebäude mit überwiegend neoromanischen und neugotischen Formen. Die Glasfenster im Presbyterium wurden vom deutschen Kaiser Wilhelm I. gestiftet und vom Kaiserlichen Institut für Glasmalerei in Berlin ausgeführt. Die Kirche war auch mit einer modernen Fußbodengasheizung und einer perfekten Beleuchtung dank etwa 200 Gaslampen ausgestattet. Die profilierten Ziegel und Terrakotten für die Fassadendekoration wurden aus Charlottenburg
(heute Berliner Stadtteil) herbeitransportiert.
11. Das Gebäude des Copernicanums, ul. Kopernika 1
Dieses imposante Gebäude, das heute zur Kasimir-der-Große-Universität gehört, ist mit interessanten Jugendstildetails verziert (z. B. mit einer Sonnenuhr an der Südfassade). Der Entwurf des 1903-1906 errichteten Bauwerks stammt aus dem Berliner Architekturbüro von Carl Zaar und Rudolf Vahl.
12. Bogenspannerin, park Jana Kochanowskiego
Die Statue des Berliner Bildhauers Ferdinand Lepcke ist eines der wichtigsten Symbole der Stadt. Die Skulptur wurde 1910 u. a. dank der Bemühungen des damaligen Bürgermeisters Hugo Wolff nach Bydgoszcz geholt. Ihre Kopien stehen u. a. in Coburg, der Heimatstadt von Ferdinand Lepcke, in Wilhelmshaven, der Partnerstadt von Bydgoszcz, sowie auf der Museumsinsel in Berlin.
13. Aleje Mickiewicza
Die nördliche Front dieser repräsentativen Straße wurde 1903 abgesteckt und mit interessanten Mietshäusern und Villen bebaut, die von führenden lokalen Architekten entworfen worden waren. Die meisten der hier stehenden Gebäude wurden mit Details im Stil des Berliner Jugendstils verziert. Erwähnenswert ist dabei, dass sich nördlich der Straße ein für jene Zeit äußerst modernes Wohnviertel
befindet, das nach den neuesten städtebaulichen Trends des frühen 20. Jh. gestaltet wurde.
14. Das Gebäude der Musikhochschule, ul. Słowackiego 7
Das Hauptgebäude der Musikhochschule in Bydgoszcz wurde 1904-1906 für die Bedürfnisse der Kreisstarostei erbaut. Unter der preußischen Besatzung war Bydgoszcz nicht nur die Hauptstadt des Regierungsbezirkes, sondern auch ein Stadtkreis. Das neobarocke Gebäude wurde von dem in Potsdam ansässigen Architekten Traugott Ernst Robert von Wienskowski genannt von Saltzwedel entworfen. Die Bauarbeiten wurden von der Firma M. Czarnikow & Co. aus Berlin ausgeführt. Das Bauwerk wurde in der Nachkriegszeit leicht umgebaut und gilt bis heute als ein Schmuckstück des Musikviertels von Bydgoszcz.
15. Gebäude des Polnischen Rundfunks PiK
a.) ul. Gdańska 48. Diese einzigartige Villa gehört zu den interessantesten Objekten in Bydgoszcz und wurde 1897-1898 für den Rentier und Stadtrat Ernst Heinrich Dietz erbaut. Das Gebäude wurde vom Berliner Architekten Heinrich Seeling entworfen, inspiriert von der englischen Ausprägung der malerischen Architektur. Im Inneren befinden sich viele interessante dekorative Elemente und im Garten begeistert ein Brunnen mit einer Reiherskulptur.
b.) ul. Gdańska 50. Die freistehende Villa im Stil der italienischen Renaissance wurde vom Berliner Architekten Hildebrandt entworfen. Von der Ostseite her war das prachtvolle Gebäude von einem Garten umgeben, der vom bekannten, an der Gartenschule in Potsdam ausgebildeten Garten- und Parkgestalter Johann Larass geplant wurde. Die Villa wurde 1900-1902 für den wohlhabenden Industriellen Wilhelm Blumwe aus Bydgoszcz gebaut. Blumwe war Eigentümer der florierenden Fabrik für Patentwagenachsen und Holzbearbeitungsmaschinen (heute Fabrik für Holzverarbeitungsmaschinen). Dieser über 150-jährige Betrieb beschäftigte Ende des 19. Jh. über 100 Arbeiter und hatte zu Beginn des 20. Jh. seine Zweigstellen u. a. in Berlin und Köln.
16. Mietshaus, ul. Gdańska 42
Das Gebäude wurde 1905-1906 vom anerkannten Architekten Fritz Weidner aus Bydgoszcz für den Kaufmann Max Rosenthal errichtet. Weidner, der die meiste Zeit seines Lebens mit Bydgoszcz verbunden war, ist Autor einiger der interessantesten und charakteristischsten Mietshäuser im Stadtzentrum. In die Stadt an der Brahe zog er aus Berlin. Zunächst zeichnete er als „Fritz Weidner – Architekt aus Berlin“. Das großstädtische Mietshaus ist ein Beispiel für neue Trends in der Architektur der Jahrhundertwende; Trends, die nach Bydgoszcz in einer von deutschen, oft Berliner Architekten angepassten Version kamen. Das frühmodernistische Objekt mit vereinfachten Details verzieren vor allem zwei durch massive Balkons verbundene Erker.
17. Mietshaus, Ecke ul. Krasińskiego 2 und ul. Gdańska
Das Gebäude wurde vom Architekten Julius Knüpfer entworfen, der Ende des 19. Jh. aus Berlin nach Bydgoszcz kam. Das 1912 erbaute Mietshaus präsentiert Formen der frühen Moderne. Das Objekt mit reduzierten Details wurde mit einem Zeltdach bedeckt, das bis heute erhalten ist (ein ähnliches Dach bedeckte einst das Gebäude des Kaufhauses „Jedynak“). Erwähnenswert ist, dass in der Zwischenkriegszeit im Mietshaus ein exklusiver Modesalon untergebracht war und in den Räumen im ersten Stock Modenschauen
stattfanden.
18. Das Gebäude des Kaufhauses „Jedynak“, ul. Gdańska 15
Das modernistische Kaufhaus wurde von Otto Walter aus Berlin für die wohlhabende Kaufmannsfamilie Conitzer entworfen. Stilistisch knüpft das Gebäude an Berliner und Pariser Kaufhäuser an. Im Bauwerk wurde, zum ersten Mal in Bydgoszcz, eine Stahlbetonkonstruktion eingesetzt. Infolge eines Brandes verlor das Gebäude sein ursprüngliches, sehr charakteristisches Dach. Besonders beachtenswert sind an der Fassade die vier Skulpturen über dem Eingang, welche die griechischen Göttinnen Aphrodite, Eris, Heraund Athene darstellen, sowie die Gestalt des Silenos an der Ecke des Gebäudes.
19. Ul. Dworcowa – auf der Höhe der Nummer 45
Besonders interessant sind die Mietshäuser mit den Nummern 45, 47 und 49. Die zwei ersten wurden vom deutschen Architekten Erich Lindenburger entworfen, der zu Beginn des 20. Jh. in Bydgoszcz schuf. Die historisierenden Objekte begeistern mit ihren Jugendstildetails. Der Jugendstil in Bydgoszcz ist eine deutsche Version des Jugendstils, der sich oft auf die Details, auf ein die Fassade bedeckendes Jugendstilkostüm beschränkte.
20. Das Gebäude der ehem. Ostbahndirektion, ul. Dworcowa 63
Das beeindruckende Gebäude wurde von den Berliner Architekten Martin Gropius (1824-1880) und Heino Schmieden entworfen. Das historisierende Objekt, das sich auf den niederländischen Manierismus bezieht, wurde für die Bedürfnisse der ersten Eisenbahndirektion in Europa und der Welt errichtet – der Königlichen Ostbahndirektion. Sie leitete den Ausbau und überwachte die Eisenbahnstrecken in den ostpreußischen Provinzen. Es lohnt sich, von dem Gebäude aus ein paar Schritte bis zur Kreuzung der Straßen Dworcowa und Królowej Jadwigi zu gehen, um im Westen das historische Bahnhofsgebäude aus der Mitte des 19. Jh. zu sehen, das sich teilweise hinter dem neuen Bahnhofsterminal aus dem Jahre 2016 verbirgt. Die Eisenbahn spielte um die Wende des 19. zum 20. Jh. eine äußerst wichtige Rolle in der Geschichte der Stadt.
* Eisenbahnbrücken in Bydgoszcz.
Die drei Eisenbahnbrücken über die Brahe in der Nähe des Hauptbahnhofs Bydgoszcz Główna sind ein einzigartiges technisches Denkmal. Die gemauerte Ostbrücke wurde 1851 im Rahmen des Baus einer Eisenbahnlinie in Betrieb genommen, die Ostpreußen mit Berlin verbinden sollte. Es ist eine der ältesten bestehenden Eisenbahnbrücken in Polen. Die gemauerte Mittelbrücke wurde 1872 beim Bau der Eisenbahnlinie von Bydgoszcz nach Inowrocław errichtet. Die Westbrücke mit einer Stahlbetonkonstruktion (errichtet 1895) stellt zu den benachbarten Ziegelkonstruktionen einen
interessanten Kontrast dar.
Beispiele für parallele Projektumsetzungen Berliner Architekten in Bydgoszcz und Berlin finden Sie in der Postkartensammlung "Berlin & Bydgoszcz".